12.02.2015 campus-leben

Nüchtern. Über das Trinken und das Glück

Ein Bericht über den Abend mit Daniel Schreiber von Osama Ishneiwer

Einen direkten und authentischen Kontakt zu allen Facetten der Buch- und Medienbranche ermöglichen - das ist das Ziel des Abendveranstaltungsprogramms am mediacampus. Dass dies automatisch sowohl warenspezifische als auch inhaltliche Auseinandersetzung bedeutet, dürfte jedem der über 50 Gäste bewusst geworden sein, die am 10. Februar in die Piper-Lounge kamen. Als Warengruppe stand am Abend das Sachbuch auf dem Programm, in diesem Fall vielleicht treffender beschrieben als «Erzählendes Sachbuch». Daniel Schreiber stellte seinen Essay «Nüchtern. Über das Trinken und das Glück» vor, ein sehr persönlicher und beeindruckender, informativer sowie bewegender Bericht Schreibers über (seine) Alkoholkrankheit und den Prozess des Nüchtern-Werdens.

Es handelt sich um ein zu Recht hochgelobtes Buch, was sich seit seinem Erscheinen im August 2014 erfolgreich auf dem Markt behauptet und hoffentlich noch erfolgreicher behaupten wird. Die Lektüre dieses Buches lege ich jedem, wirklich jedem Menschen ans Herz. Authentisch, nachvollziehbar und mit mutiger Aufrichtigkeit erzählt Schreiber «von den Mechanismen der Selbsttäuschung, die es so vielen Menschen erlauben, ihr Alkoholproblem zu ignorieren», wie es treffend im Klappentext heißt. Er schildert, wie leicht wir alle dem Trinken verfallen können. Unbewusst, unbedacht, ungeahnt. Schreiber: «Irgendwann wird aus der halben Flasche eine ganze, dann möchte man sich aber doch mäßigen und trinkt eine Weile wieder nur eine halbe. Nur um schließlich auch die Flasche am Abend als selbstverständlich anzusehen. Man legt Trinkpausen ein, eine Woche hier, zwei Wochen da, manchmal auch sechs Wochen zur Fastenzeit. Man bringt sich dazu, nicht mehr jeden Tag zu trinken, sondern bloß vier Tage die Woche, nur um sich etwas später nicht mehr daran erinnern zu können, je eine solche Entscheidung getroffen zu haben. […] Man trinkt zwischen zwei Gläsern Wein ein Glas Wasser. Man trinkt nicht mehr zu Hause, sondern nur noch unterwegs, auch wenn das heißt, dass man einfach mehr unterwegs ist.» (S. 10/11.)

Die sehr gute Lesbarkeit des Essays ergibt sich aus dem kunstgerechten Wechsel zwischen persönlichem Erlebnisbericht, wissenschaftlicher Information über die Volkskrankheit Alkoholabhängigkeit und soziologischer Analyse über die offensichtliche Verlogenheit der Gesellschaft im Umgang damit. Gelegentlich habe ich persönlich dabei im informierendem, analytischen (nie im persönlichen) Part des Textes etwas vermisst: die Auswirkungen der Alkoholkrankheit auf das soziale Umfeld. Ich meine damit die Menschen, welche die emotionalen, gesundheitlichen, finanziellen sowie beruflichen Folgen oftmals ungeschützt tragen müssen. Insbesondere, wenn es sich dabei im beruflichen oder im privaten Bereich um Abhängigkeitsverhältnisse handelt. Schreiber verschweigt diese Probleme nicht, schildert aber auch nicht explizit aus der Sicht der Nottragenden. Andererseits ist es ein Gewinn, dass der Essay nicht belehrend oder moralisch daherkommt – und wie ließe sich das von mir Vermisste nicht belehrend, nicht moralisch schildern?

Dass die Lektüre allemal mit jedem Kapitel gewinnbringend aufklärend ist, möchte ich mit dem Folgendem wieder aufgreifen. So führt der Autor beispielsweise aus, dass Abhängigkeiten den Ursprung dessen angreifen, «was wir uns als das eigene Selbst vorstellen. Sie lassen uns erkennen, dass unser Bewusstsein, auf dessen Grundlage wir unser Leben aufbauen, nicht zwangsläufig etwas ist, dessen wir uns sicher sein können. Sie stellen den Kern unseres Selbstverständnisses in Frage. Sie gehen mit einem massiven, scheinbar unaufhaltsamen Selbstverlust einher. […] Wie um das zu unterstreichen, werden die Krankheit und das Selbst von uns schon sprachlich gleichgesetzt. Man hat keine Abhängigkeit, wie man etwa eine Grippe hat, Diabetes oder Krebs. Man ist abhängig. Dabei handelt es sich nicht um eine rein zufällige verbale Zuschreibung. Es ist tatsächlich so, dass der Satz ‹Ich bin alkoholabhängig› immer auch bedeutet, dass man seinem eigenen Kopf nicht mehr trauen kann, solange man der Stimme im Kopf Glauben schenkt, die einem sagt, dass man ruhig weiter trinken kann. Für mich war es ein Satz, den ich erst sagen konnte, als ich nüchtern wurde.» (S. 33/34. Hervorhebungen im Original.)

Ich habe große Lust, noch mehr Textstellen wiederzugeben, die mich beeindrucken, und ich muss mich wirklich, wirklich, wirklich zurückhalten. Aber anstatt das ganze Buch zu zitieren, sage ich: den Essay selber kaufen, den Essay selber lesen und, weil hier auf dieser Homepage gelegentlich Branchenmitglieder vorbeischauen, den Essay verkaufen, verkaufen, verkaufen.

Vielen Dank, lieber Hanser Verlag, für die Leseexemplare und das leckere Essen. Vor allem aber vielen Dank, lieber Daniel Schreiber, für diese schöne, nachhaltig wirkende Begegnung!

Bis dahin, Osama Ishneiwer

hanser-literaturverlage.de

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