19.06.2015 campus-leben

Postkarnevalistischer Irrsinn am mediacampus

Juri Andruchowytsch zu Gast

Am Abend des 18.06. folgten mehr als 40 Gäste der Einladung Osama Ishneiwers, einen der bekanntesten Schriftsteller und Intellektuellen der Ukraine kennenzulernen: Juri Andruchowytsch.

Andruchowytsch wurde 1960 in Iwano-Frankiwsk/Westukraine, dem früheren galizischen Stanislau geboren. Er ist Lyriker, Romanautor, Essayist, Parodist. Sein Werk erscheint vor allem im Suhrkamp Verlag. Seit vielen Jahren begleitet er aktiv die Demokratiebewegungen in der Ukraine und so bot sich mit diesem Abend nicht nur die Gelegenheit, Andruchowytschs großartiges literarisches Werk kennenzulernen, sondern gleichzeitig aus erster Hand Informationen über die jetzige politische Situation des Landes zu erfahren.

Die Lesung begann mit einem Auszug aus dem Roman «Perversion», der in den Jahren 1993/94 spielt, also kurz nach dem Ende der Sowjetunion und der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine. Andruchowytsch hat sich hier eines schönen und in der Literatur bekannten Tricks bedient: er gibt vor, nicht Autor, sondern der Herausgeber von schriftlichen Hinterlassenschaften von und über Stanislaus Perfezki zu sein. Und Perfezki, der ca. noch 40 weitere Namen hat, ist ein Künstler, ein Schriftsteller, ein Wahnsinniger. … oder sind die anderen die Wahnsinnigen, Irrsinnigen, Verrückten, Durchgeknallten? Jedenfalls wird dieser Perfezki zu einem Kongress in Venedig eingeladen, der unter dem Titel steht: «Postkarnevalistischer Irrsinn der Welt – was dräut am Horizont?» Perfezki soll einen Vortrag halten.

Andruchowytsch – ein Meister der Vortragskunst – begeisterte das Publikum am mediacampus mit kurzen Textstellen, mit denen einmal mehr deutlich wurde, welch ein Wortkünstler er ist. Anschließend trug er noch einige Gedichte seines im Heidelberger Verlag «Das Wunderhorn» erschienenen Gedichtbandes «Werwolf Sutra» vor und bot eine Kostprobe seines (hoffentlich, wir warten jetzt darauf!) 2016 erscheinenden Städtelexikons, in dem er mit seinem ihm typischen Humor von ihm bereiste Städte porträtiert.

Der Abschluss bildete wie immer die Fragerunde, die, angesichts des Gesprächspartners und der Situation in der Ukraine, noch sicherlich hätte mehrere Stunden länger gehen können. Es scheint zunächst schwierig, da in diesem Fall besonders umfangreich, den literarischen Autor Andruchowytsch vom politischen Essayisten und Aktivisten Andruchowytsch zu unterscheiden: Sollen sich die Fragen auf die Literatur oder eher auf die Politik beziehen?

Eines aber wurde vielleicht deutlich: In der Literatur Andruchowytschs finden sich viele Antworten auf politische Fragen. Lesen wir beispielsweise seine (literarischen) Essays, wird klar, dass die vermeintliche Unterscheidung in eine eher an Westeuropa orientierte Westukraine und eine eher an Russland orientierte Ostukraine einem Phantasma entspringt. Genau darin liegt eine große politische Leistung des Literaten Andruchowytsch: Er zeigt uns mit seiner Literatur, dass die Ukraine ein –  wirklich ein – Land ist und zwar in all seiner bereichernden Vielfalt zugleich. Sehr schön nachzulesen beispielsweise in seinem 1999 geschriebenem (2003 erschienenem) Essayband «Das letzte Territorium», also lange vor der «Orangenen Revolution» von 2004 und lange, lange vor dem «Euromaidan»: «Der angebliche ‹Graben zwischen dem Westen und dem Osten der Ukraine› ist für mich ein totaler Anachronismus. Es gibt weitaus mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Die Ukraine ist wirklich ein einziges Land – anders als die Türkei, als Polen und sogar Russland. Aber wie verschieden ist das Land zugleich!»

Es war ein denkwürdiger Abend mit einem besonderen Schriftsteller. Diese Veranstaltung wäre ohne die Vermittlung durch die Schriftstellerin Hanne Kulessa und ohne die Hilfe und besondere Unterstützung des Suhrkamp Verlags nicht zustande gekommen. Dafür ein ganz großes Dankeschön!

Vor allem aber ein ganz herzliches Dankeschön an Juri Andruchowytsch. Es war uns eine große Ehre und Freude!

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