Im Gespräch mit Boualem Sansal
auf der Frankfurter Buchmesse
Aus dem Azubistro von der Frankfurter Buchmesse berichtet Stefanie Spiesecke, Auszubildende bei der Mayerschen in Siegen.
Ein, wenn nicht DAS große Highlight der Azubistro-Veranstaltungen war in diesem Jahr das Gespräch von Osama Ishneiwer mit dem Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels Boualem Sansal und dem Übersetzer Vincent von Wroblewsky. Osama Ishneiwer ist Literaturdozent am mediacampus Frankfurt und verantwortlich für die Abendveranstaltungsplanung am Campus. Außerdem verwaltet und betreut er mit nie endendem Enthusiasmus seine (und unsere) Siegfried-Unseld-Bibliothek.
Der Algerier Boualem Sansal ist einer der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller in Frankreich. Sein Roman «2084 – Das Ende der Welt» wurde im Französischen für mehrere wichtiger Literaturpreise nominiert und landete in Deutschland auf der Hotlist der unabhängigen Verlage. Im literarischen Gespräch gab er uns einen tieferen Einblick in die Vorstellungen und Ansichten, die sich hinter seiner Geschichte verbergen und auch einen Eindruck davon, welcher Mensch sich hinter dem Schriftsteller Boualem Sansal verbirgt.
Einführend ein paar Hintergrundinformationen zu Boualem Sansals Leben und Wirken: Geboren wurde er 1949 in Téniet el Had in Algerien. Sansal ist gelernter Ingenieur, promovierter Ökonom, war Doktorand, Unternehmensforscher, Lehrer und Berater. In seiner Anstellung in der Administration als Generaldirektor der Industrie im Ministerium für Industrie und Umstrukturierung hatte er die Gelegenheit, tiefere Einblicke in die Lage seiner Heimat zu erlangen – dies sollte sich auch später immer wieder in seinen Texten widerspiegeln. Er setzte auf Innovation, knüpfte wichtige Kontakte nach Europa und Amerika, gründete einen Kreis junger, kreativer Unternehmer und verschaffte diesen vor den neuen, internationalen Kontakten eine Stimme. Aus besagtem Kreis algerischer Jungunternehmer ist heute CARE geworden, ein unternehmensgetriebenes Institut das an die 100 Nachwuchs-Unternehmer organisiert und von internationaler Bedeutung ist.
Im Jahr 1996 – im Alter von 50 Jahren – wurde Boualem Sansal schließlich Schriftsteller und die Lebenserfahrung, welche er in seine Texte einbringt ist deutlich spürbar. Mit seinem ersten Roman «Der Schwur der Barbaren» folgte die Ehrung durch den Prix du Premier Roman – und seine Entmündigung in der Administration. Der Roman handelt von den Zuständen, welche in Algerien nach dem Bürgerkrieg 1990 herrschten und deckt Gewalt, Korruption und Machtmissbrauch in Sansals Heimat auf. Mit seiner Veröffentlichung hat Sansal sich für die Regierungsarbeit disqualifiziert – und damit wiederum war der Weg für die Literatur frei. Ohne eine Arbeit die seiner Qualifikation entsprach, denn niemand konnte ihn gefahrlos einstellen, blieb nur das Schreiben. Sansals Liebe zur Literatur begann allerdings schon in seiner Studienzeit. Durch die Freundschaft mit dem Schriftsteller Rachid Mimouni zum Schreiben animiert, sieht er jenes heute vielleicht nicht als Lösung der politischen Probleme Algeriens an, doch, so Sansal, braucht er es zwingend in seinem inneren Exil.
Seine Auszeichnung für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt Sansal 2011. Eine Ehrung deren Berechtigung er immer wieder bestätigt, beispielsweise 2012, als er zusammen mit David Grossman einen weltweiten Friedensappell der Schriftsteller initiierte. Der Großteil von Sansals auf Französisch geschriebenen Texten ist inzwischen auch in deutscher Sprache erschienen und zwar im Merlin Literaturverlag. Hinter seinem Werk zeigen sich die Lebenserfahrung, die er gemacht, die Probleme die er selbst mitbekommen hat, ebenso wie seine Fürsorge für die Heimat – sei es durch wirksame und beständige Beschlüsse als Generaldirektor, sei es durch kritische Töne als Schriftsteller. Trotz der Gefahr, welche seine staatskritischen Veröffentlichungen nach sich ziehen, lebt Sansal auch heute noch in Algerien.
Auf unserer Veranstaltung wurde Sansal von Vincent von Wroblewsky begleitet. Wroblewsky ist deutsch-französisch Übersetzer, Philosoph und Literaturwissenschaftler. In erster Linie ist er unserer Branche als Übersetzer der große Jean-Paul Sartre Gesamtausgabe bekannt, welche aber nur einen Teil seiner weitreichenden schriftlichen Publikationen und Dolmetschertätigkeiten ausmacht. Er ist zudem der Präsident der Sartre-Gesellschaft in Deutschland e.V. und Mitherausgeber der Jahrbücher der Sartre Gesellschaft. Wroblewksi hat Sansals Roman «2084 – Das Ende der Welt» ins Deutsche übersetzt und war auch bei der Veranstaltung im Azubistro als Dolmetscher zwischen Boualem Sansal und Osama Ishneiwer tätig.
Der Roman «2084» knüpft an den bekannten dystopischen Roman «1984» von George Orwell an. Während Orwells Roman die Eindrücke aus dem Nationalismus und dem Stalinismus reflektiert, kreiert Sansal in 2084 einen Gottesstaat. In dessen Hintergrund steht eine erdachte Religion, die, überhöht, als Begründung für das totalitäre Regime herhalten muss, welches in Abistan, dem Land der Gläubigen, regiert. Den Herrscher Abistans bekommt niemand zu Gesicht, denn er lebt abgeschottet und durch seine Männer bewacht in seinem Palast. Alles im Leben der Einwohner Abistans wird ihnen vordiktiert. Literatur, Kunst und Musik sind verboten, die Teilnahme an öffentlichen Hinrichtungen ist verpflichtend, die Männer tragen Bärte, die Frauen sind verschleiert. Sansals Hauptperson Ati bricht aus diesem System aus, als er erkennt wie gefangen er in dieser Gesellschaft ist. Und das System beginnt zu bröckeln.
Osama Ishneiwer brachte zunächst das Thema Religion an und die Frage, wie es dazu kam, dass in Sansals Roman Religion als Grundstock des totalitären Regimes dient. Religion sei, so Sansal, an sich totalitär. Sie beinhalte eine Wahrheit, die sie allen anderen aufzwingen will. Das gilt, so der Autor, nicht für bestimmte Religionen, sondern für jede Religion. Sie neigen dazu, die Gesellschaft zu beeinflussen. Dadurch eignen sie sich gut als Ursprung und Grund eines totalitären Systems, welches die Gesellschaft ebenfalls massiv beeinflussen will. Die Unterwerfung in ein totalitäres System, so Sansal, entspricht dem Bedürfnis des Menschen nach Normen und Sicherheit. Er sagt, es handelt sich um «Ein System das herrschen will über Menschen, die beherrscht werden wollen.» Sansal schildert uns auch den Weg zu einem solchen totalitären System. Zu Beginn braucht es Kraft und Gewalt. Dann aber auch die Mitarbeit aus der Gesellschaft, also muss das System die Bevölkerung davon überzeugen, dass es gut für sie ist. Zu diesem Zweck muss das alte System als «Feindbild» herhalten, die Geschichte und Sitte zerstört werden, bis es den Menschen erscheint als sei es von einem Feind von außen gekommen. Durch die Zustimmung der Bevölkerung zum totalitären System erscheint es demokratisch. Erst mit dem Zweifel der Menschen kann eine Gegenbewegung entstehen. Und so beginnt das System zu bröckeln.
Sansal erinnert uns auch daran, dass das Gegenteil eines totalitären Systems nicht unbedingt eine gute Alternative sein muss. Mehr noch: Für gewöhnlich ersetzt ein System das andere. Aus der bestehenden Identität des Staates und der Gesellschaft wird, wenn die Menschen jene anzweifeln, eine neue Identität geschaffen. Diese muss nicht zwangsweise besser sein und ist, so Sansal, in gewisser Weise immer totalitär.
Ishneiwer warf als nächstes die Frage auf, ob es Hoffnung im Roman gäbe. Ob das Wanken des System Abitans nicht eben jene Hoffnung suggeriere oder ob es utopisch sei, an diese Hoffnung zu glauben. Sansal argumentierte mit der Freiheit des Menschen. Für Sansal ein kultureller, kein natürlicher Begriff ist Freiheit nicht im Menschen angelegt. Das erwähnte Streben nach Sicherheit und Ordnung steht einem utopischen Freiheitsbegriff im Grunde auch entgegen. Sansal stellt die Frage, in wie weit der Mensch sich individuell, in wie weit er sich kollektiv befreien kann. Gegen die These, dass der Mensch sich vollständig befreien kann, sprechen Sansals Worte darüber, dass der Mensch selbst Träger des Systems ist. «Um sich zu befreien braucht es eine Ideologie», so Sansal – und jede Ideologie ist Träger eines neuen Systems, welches immer mehr oder weniger totalitär ist. Eine «sanfte Diktatur» kann sich entwickeln, aber auch diese bleibt eine Diktatur. Bedenkt man Sansals vorige Worte würde das dann unsere Demokratie als eine Diktatur im Gewand einer Demokratie entlarven? Dass die Befreiung aus einem totalitären System in ein anderes führt ist ein Thema, welches bereits Camus ausführlich behandelt hat. Bei ihm ist Revolte ein Moment der Bewegung für den Menschen. Für Sansal ist jener Prozess, der die Menschen zur Revolte bewegt maßgeblich. Innerhalb dieses Prozesses geht der «Glaube ans Gelingen» mit dem «Inneren Wissen des Scheiterns» einher. Weiß im Grunde der Mensch also, dass er keine wirkliche Freiheit erlangt da er Teil des bestehenden Systems ist und Teil des neuen Systems sein wird?
Nach Sansal strebt sein Protagonist Ati keineswegs eine Revolte an. Er empfindet allerdings ein gesteigertes Unbehagen innerhalb seiner Gesellschaft. Eines das er zunächst nicht näher definieren kann. Dieses Unbehagen alleine, so Sansal, ist kein Prozess, keine Revolte. Ati kennt die Fragen nicht, die er stellen muss. Der Weg zu den passenden Antworten, zu einer neuen Ideologie ist ihm zunächst verstellt. Er weiß nicht wo er die Antworten suchen soll. Erst durch seine Bekanntschaft mit einem Regime-Internen wird aus dem Unbehagen der Beginn einer Revolte. Oder, wie eingangs gesagt: Es bedarf einer Ideologie, um aus einem totalitären System auszubrechen. Es bedarf einer Definition, es bedarf eines Verständnisses dafür woher das Unbehagen stammt. Es braucht etwas Vorgefertigtes, so Sansal.
Osama Ishneiwer führte ein Zitat von Ernst Bloch an, welches lautet: „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.“ und fragte, ob dieses ‚wir‘ das erst wird nicht auch etwas anderes als ein totalitäres System sein könne. Sansal unterscheidet zwischen einer „Individuellen“ und einer Kollektiven Revolte um sich einer Beantwortung dieser Frage zu nähern. Er macht deutlich, dass individuelle Ängste nicht die kollektiven Ängste der Gesellschaft sind. Das Individuum an sich, in Begegnung seiner Ängste und Überwindung derselben, in seiner individuellen Freiheit verändert sich ständig. Die Gesellschaft aber braucht als Antwort auf ihre Ängste Stabilität und Beständigkeit – beispielsweise durch ein religiöses System. Das Individuum fällt unter die Totalität der Gesellschaft, zu der es gleichsam dazu gehört. Im Okzident, so Sansal, ist das Individuum stark. Das demokratische Gesellschaftssystem ermöglicht ein Minimum individueller Freiheiten. Im Orient fehle diese Steuerung, die Sicherung individueller Freiheiten. Ist ein System aber weniger totalitär – wenn es mehr individuelle Freiheit zulässt? Oder hat die Vorgabe des Zulassens individueller Freiheiten eben gerade System?
Zum Ende des Gespräches hin, welches nach subjektivem Empfinden viel zu früh kam, sich dieses auf die Frage aus, wie Sansals Bücher wirken und wirken dürfen und vor allem was der Autor darüber denkt. Er sagt, dass alle Gedanken, alle Texte sobald sie veröffentlicht sind ein Eigenleben gewinnen. Ebenso wie das bei Ideen der Fall ist. Den Kommunismus führt er als grundsätzlich gute Idee an, welche allerdings durch Stalin spätestens pervertiert wurde. Ideen und Gedanken verselbstständigen sich also. Dasselbe gilt für Texte. Die Menschen lesen sie nach ihrer Sichtweise, ihr Hauptaugenmerk richtet sich oftmals nach ihren Erfahrungen aus. Der Autor hat keinen Zugriff darauf wie seine Texte gelesen werden. Dies gilt im Positiven, wenn beispielsweise jemand in das düstere Zukunftsszenario seines neusten Romans Hoffnung hineinlesen möchte, dann kann Sansal das nicht verhindern, auch dann nicht, wenn es nicht seine Intention war als er «2084» verfasste. Ebenso gilt es im Negativen. So wird zum Beispiel Sansals Text Allahs Narren zum Stammtext extremer Rechter in Frankreich, ohne dass dies von ihm so gewollt wäre. Der Autor hat wenig Einfluss darauf wie sein Buch gedeutet wird.
Mir persönlich hilft der Gedanke, dass große Ideen in der Vergangenheit durchaus dazu in der Lage waren, die Welt zu warnen, zu verbessern und zu verändern. Nicht, weil ein einzelnes Buch geschrieben wurde, auch nicht, weil es mehrere ähnlicher Texte, mehrere ähnlicher Gedanken nach sich zog sondern vorwiegend, weil die Texte das Denken der Gesellschaft nach und nach beeinflussen und unser Denken wiederum beeinflusst die Texte. Manchmal kommt eine Warnung verfrüht, manchmal sind fortschrittliche Gedanken ihrer Zeit voraus, aber wenn der erste Stein nicht gesetzt wird, kann auch kein Haus entstehen. Sansals literarisches Wirken gehört definitiv zu den Steinen die es braucht um der Idee eines Hauses, der Idee einer friedlicheren Zukunft, Gestalt zu verleihen